Fallbesprechung Herr Schlag

Seit vielen Jahren moderiere ich „kollegiale Fallbesprechungen“ in Einrichtungen der Altenhilfe. Die kollegiale Beratung basiert auf der Annahme, dass Menschen immer einen Grund für ihr Verhalten haben.

Regelmäßig lasse ich Sie an den spannendsten Fallbesprechungen teilhaben – heute an dem Fall von Herrn Schlag (alle Namen wurden geändert). Ich freue mich über Hypothesen zum Verhalten von Herrn Schlag in den Kommentaren.

Herr Günter Schlag ist 85 Jahre alt und ist seit einem Jahr Bewohner in einer Einrichtung. Vor dem Umzug ins Heim hat er mit seiner Frau zusammen gewohnt. Das Ehepaar Schlag hatte immer einen kleinen, aber festen Freundeskreis. Seine Töchter erzählen, dass sich zu Hause immer alles um ihren Vater gedreht hätte und ihre Mutter nie ein eigenes Leben gehabt hätte. Ihr Vater habe sich oft in seine Werkstatt zurückgezogen. Vor einiger Zeit gab es dort eine Explosion. Wie genau das passiert ist, ist nicht nachvollziehbar. Laut der Angehörigen hat nach der Explosion, und den damit verbundenen Verletzungen, die Demenz begonnen. Die Ehefrau war körperlich mit der Pflege ihres Mannes überfordert. Seine beiden Töchter haben jeweils eine sehr unterschiedliche Einschätzung über die Situation des Vaters: Die jüngere Tochter, die ihn nur selten besucht, äußert, dass er hier glücklicher sei als Zuhause. Die ältere Tochter äußert, dass er hier sehr zurückgezogen sei und dass es ihm auf dem Wohnbereich nicht gut gehe. Sie ist fordernd, sucht das Gespräch mit den PK und lässt ihren „Frust“ ab.

 

Akute Situation, die Anlass für die Fallsupervision war: 

Herr Schlag hat in den letzten Tagen stark abgebaut und spricht nicht viel. Er isst schlecht und hat in der letzten Zeit 6 kg abgenommen.

Durch seinen Rückzug haben die Mitarbeitenden die Befürchtung, dass er „untergeht“. Außerdem wirkt er traurig und äußert häufig, dass er am liebsten nach Hause möchte. Ein weiteres Thema ist sein Schlafrhythmus. Er schläft bis 10:30 Uhr und geht erst um 1-1:30 Uhr ins Bett. Mittags schläft er auch gerne. Dadurch dass er tagsüber so müde ist, gestaltet sich die Nahrungsaufnahme als schwierig.

Ausnahmen:

Beim Männerstammtisch ist er redselig, hat einen trockenen Humor und ist bedeutend aufgeschlossener.

 

Folgende Hypothesen haben die Mitarbeitenden, die Herr Schlag pflegen, zu seinem Verhalten aufgestellt:

  • Er war nie ein Mensch, der Gemeinschaft brauchte.
  • Er möchte etwas tun, wie früher in seiner Werkstatt, findet aber keine sinnvolle Aufgabe.
  • Er versteht nicht, wo er ist und warum er dort ist.
  • Nachts ist nicht so ein Trubel auf dem Wohnbereich. Er mag die Ruhe. Dass er in der Nacht so lange wach ist, ist eine Selbstheilungsstrategie. Er findet in der Nacht die Ruhe, die er braucht.
  • Er hat mehr kognitive Fähigkeiten als es scheint und merkt, dass etwas in Bezug auf seine Situation ungeklärt ist. (Die Familie erzählt ihm, dass er nur vorübergehen in der Einrichtung ist.)
  • Die Töchter haben den Umzug ins Heim forciert – damit endlich mal Ruhe ist und die Mutter leben kann. Das ist Herr Schlag bewusst.
  • Er macht das Beste aus der Situation, indem er in der Nacht aktiv ist und so dem Trubel entgeht.
  • Er flieht vor Beziehung, Dominanz und Fremdbestimmung.
  • Er war zu Hause der „Buhmann“ und die Tochter hat Partei für die Mutter ergriffen.
  • Die Tochter möchte ihn erziehen.
  • Er hatte keine einfache Position in der Familie. Sein Bedürfnis nach Rückzug ist bei den Töchtern und seiner Ehefrau auf Unverständnis gestoßen.
  • Seine Ehefrau hat unter ihm gelitten, was die Töchter gegen ihn aufgebracht hat.

 

Die Mitarbeitenden haben während der Fallbesprechung Ideen gesammelt für mögliche Maßnahmen:

  • Werkbank mit ihm aufstellen, mit ihm streichen oder andere Arbeiten tun. Ihn dabei ein Butterbrot anbieten.
  • Nicht versuchen ihn in einen anderen Rhythmus zu bringen (in der Nacht etwas anbieten: Brot, Getränke oder Süßigkeiten).
  • Modellbaukasten
  • Ihm einen Fernseher oder ein Radio ins Zimmer stellen.
  • Bilderrahmen bauen
  • Mit ihm in den Garten gehen und zuschauen.
  • Bei den Mahlzeiten Nachschlag anbieten.
  • Angepasste Mahlzeiten an seine Wachzeiten.
  • Ihn nicht kontrollieren.
  • Ihm erklären, dass er erstmal hier bleibt.
  • Ein Gespräch mit der Ehefrau über den mutmaßlichen Willen des BW führen (Beobachtung, Fallbesprechung erklären).
  • Klarheit für BW durch die Wahrheit seiner Situation schaffen.