Fallbesprechung Frau Weber

Seit vielen Jahren moderiere ich kollegiale Fallbesprechungen in Einrichtungen der Altenhilfe. Dabei geht es um Situationen, die für die betroffenen Personen belastend und nicht mit den üblichen Maßnahmen zu lösen sind. Die kollegiale Beratung basiert auf der Annahme, dass Menschen immer einen Grund für ihr Verhalten haben.

Auf meinen Social Media-Profilen lasse ich Sie regelmäßig an den spannendsten Fallbesprechungen teilhaben. Auf meinem Blog finden Sie nun die gesamte Fallbesprechung zu Frau Weber (alle Namen wurden geändert) vor.

Frau Weber wurde 1946 geboren und lebt seit fünf Jahren in einer stationären Altenhilfeeinrichtung. Neben einer Alzheimer-Demenz ist bei ihr eine Depression diagnostiziert worden. Zudem hat sie ein Mamma CA, was zu einer Amputation einer Brust führte. Sie ist mobil und in der Lage sprachlich zu kommunizieren. Sie hat zwei Töchter und einen Sohn. Laut der Töchter war sie früher gesellig und legte viel Wert auf ihr Äußeres. Beziehungen zu Männern sollen „unglücklich“ gewesen sein.

Seit Frau Weber in der Einrichtung wohnt, beobachten die Mitarbeitenden herausforderndes Verhalten. Sie wirft Speisen aus ihrem Fenster, räumt den Kühlschrank in der Küche aus, isst massenhaft Süßstoff, Seife oder Blumen und sammelt herumliegendes ein. Außerdem führte sie Nahrungsmittel in ihre Vagina ein, was zu einer massiven Entzündung führte. Eine Zeitlang klagte sie über heiße Füße. Zur Kühlung legte sie Nahrungsmittel aus dem Kühlschrank auf ihre Füße. Vor einigen Wochen hatte sie eine massive Hautinfektion am ganzen Körper. Daher wurde sie 14 Tage im Krankenhaus mit Cortison behandelt. In der letzten Zeit hält sie sich hauptsächlich in ihrem Bett auf. Hin und wieder kommt sie heraus, geht in andere Zimmer und legt sich zu anderen Bewohner:innen ins Bett. Problematisch ist die Situation seit einem halben Jahr. Frau Weber kotet in ihr Zimmer, verschmiert den Kot und isst ihn auch. Sie zeigt großen Widerstand bei der Versorgung und schreit „Hau ab du Schwein“. Zeitweise ist es möglich sie pflegerisch zu versorgen. Wenn sie gepflegt ist, bedankt sie sich.

 

Die Mitarbeitenden haben Hypothesen erarbeitet, um das Verhalten von Frau Weber besser zu verstehen:

  • Sie hat eine Frontotemporale Demenz mit ausgeprägter Apraxie (Diagnostiziert ist eine Alzheimer-Demenz).
  • Sie hat eine Metastase ihrer Brustkrebserkrankung im frontotemporalen Bereich des Gehirns.
  • Sie leidet unter den Wechselwirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente.
  • Die Depression steht im Vordergrund, nicht die Demenz.
  • Ihr Verhalten ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit! Sie erfährt, dass sich die Mitarbeitenden um Sie kümmern, wenn sie sich einkotet hat
  • Sie sucht nach Liebe und Nähe.
  • Sie fühlt sich unansehnlich, sie findet sich selbst nicht schön.
  • Ihr gefällt das Zimmer nicht, es ist Ihr zu dunkel, das fördert die Depression.
  • Sie gibt Komplimente, weil sie selbst Komplimente erhalten möchte.
  • Sie hat in vielen Bereichen ihres Lebens ein massives Krisenerleben.
  • Sie braucht Kontakt, sie fühlt sich ausgeschlossen, hat das Gefühl sie gehört nicht dazu.
  • Sie erkennt ihren Kot nicht als Kot.
  • Ihr Verhalten ist eine Altersregression (Kleinkind).
  • Sie hat Angst.
  • Hat eine „mega“ Vorgeschichte, die wir nicht einschätzen können.
  • Sie hat einen Mangel an sensorischen Reizen.
  • Sie war eine starke Frau und immer selbstständig. Der Umzug ins Heim ist eine Tragödie für sie. Sie empfindet ihre Situation hoffnungslos und traurig.

 

Die Teilnehmenden der Fallsupervision hatten den Eindruck, zu wenig Informationen zur Biografie und über die Erkrankungen von Frau Weber zu haben. Für die Mitarbeitenden stellte sich das Gefühl ein, nur Fragmente eines komplexen Geschehens sehen und erfassen zu können. Sie waren sich darüber einig, dass die Situation für Frau Weber, aber auch für sie selbst komplex und belastend ist. Besonders der Umgang damit, dass Frau Weber ihren eigenen Kot isst und bei der Pflege häufig Abwehrverhalten zeigt, bereitet ihnen viele Sorgen.
Auch nach der Hypothesensammlung zeigte sich kein klares Bild. Es klingt vielleicht banal, aber das Erfassen der Komplexität des Geschehens, die Annahme des Nichtverstehens und der eigenen Grenzen, waren wichtige Schritte für die Mitarbeitenden. Sie trugen dazu bei, dass die Mitarbeitenden, trotz großer Unsicherheit, den Glauben daran, dass sie die Lebensqualität von Frau Weber verbessern können, nicht aufgeben.

 

Nachfolgend haben die Mitarbeitenden verschiedene Lösungsansätze erarbeitet, um konkrete Maßnahmen zu formulieren:

  • Wir glauben weiter daran und verlieren nicht die Hoffnung, dass das, was wir für Frau Weber tun, gut und richtig ist! Wir geben nicht auf, auch wenn sich nicht sofort ein Erfolg einstellt.
  • Wir organisieren ein gemeinsames Gespräch mit den Angehörigen, dem Arzt, und der Psychiaterin, um gemeinsam über die Möglichkeiten, Grenzen und Verantwortlichkeiten bei der Versorgung zu sprechen.
  • Wir notieren und tauschen uns darüber aus, wann die Pflegesituation gut gelungen ist. Ein Ritual zu entwickeln, macht die Pflegesituation für Frau Weber erkennbar und vorhersehbar.
  • Ebenfalls entwickeln wir eine Strategie für den Umgang mit ihrem Abwehrverhalten. Wir führen das pflegerisch Notwendige ruhig, freundlich aber entschieden durch. Wir dokumentieren, in welchen Situationen sie kein Abwehrverhalten gezeigt hat.
  • Frau Weber wird so oft wie möglich, wenn Sie sauer und versorgt ist, in die Wohngruppe einladen! Dort bekommt sie, über den ganzen Tag verteilt, viele kleine Aufmerksamkeiten.
  • Wir sorgen für guten (weiblichen) Körperkontakt (Frisur, Einreibungen).
  • Wir reichen ihr mehrere Mahlzeiten am Tag und stellen kleine Speisen ins Zimmer.
  • Auch die Töchter bringen etwas anderes als Blumen mit.
  • Overall anprobieren (Kot essen ist schädlich und kann nicht hingenommen werden)
  • Häufiger in ihr Zimmer schauen und Kontakt aufnehmen.
  • Wir statten ihr Bett mit sensorischem Material aus (Stofftiere, Kissen, Tücher, Felle).
  • Die Angehörigen nach der Musik fragen, die sie gerne gehört hat.


Auch bei der Ideensammlung gab es nicht das Gefühl, DIE Lösung gefunden zu haben. Die Mitarbeitenden waren sich darüber einig, dass sie auch nach der Fallbesprechung das Wohlbefinden, die körperliche als auch die psychische Entwicklung von Frau Weber im Blick haben werden. Wenn es eine weitere Fallbesprechung zu Frau Weber geben wird, werde ich darüber berichten.