Fallbesprechung Frau Kellermann

Seit vielen Jahren moderiere ich kollegiale Fallbesprechungen in Einrichtungen der Altenhilfe. Dabei geht es um Situationen, die für die betroffenen Personen belastend und nicht mit den üblichen Maßnahmen zu lösen sind. Die kollegiale Beratung basiert auf der Annahme, dass Menschen immer einen Grund für ihr Verhalten haben.

Regelmäßig lasse ich Sie an den spannendsten Fallbesprechungen teilhaben – heute an dem Fall von Frau Kellermann (alle Namen wurden geändert). Also alles Geschichten, die das Leben geschrieben hat! Ich freue mich über eine offene Konversation in den Kommentaren.

Frau Kellermann ist seit März 2021 in der Einrichtung. Sie wurde 1931 geboren und hat noch einen jüngeren Bruder, der sie hin und wieder besucht. Ihre Eltern hatten eine Schreinerei. Auf ihre Eltern und deren Status ist sie sehr stolz. Sie hat die höhere Handelsschule besucht, obwohl sie gerne Abitur gemacht hätte. Anschließend hat sie als kaufmännische Angestellte gearbeitet. Sie hatte einen großen Garten und hat gerne Freunde eingeladen. Viel ist über Frau Kellermann nicht bekannt, da der Bruder nur selten zu Besuch kommt. Frau Kellermann war nie verheiratet und hat auch keine Kinder oder andere Angehörige.

In der kollegialen Fallbesprechung wurde festgehalten, welches Verhalten von Frau Kellermann die Mitarbeitenden vor Ort vor Herausforderungen stellt:

  • Bei einer gemeinsamen Aktivierung mit anderen Bewohnern in der Küche, fragte sie in einem Zeitraum von 15 Minuten ca. zehnmal: „Wo bin ich hier, wo sind die Anderen, bin ich hier falsch, bin ich hier richtig, hab ich etwas falsch gemacht?“ und: „Ich muss mal aufs Klo“.
  • Sie gerät in Konflikt mit einem anderen Bewohner
  • Sie fragt ständig (s.o.) und beschimpft die MA mit „Arschloch“ und anderen Ausdrücken
  • Es kommt vor, dass sie anderen Bewohner:innen gegenüber handgreiflich wird
  • Sie hat eine starke innere Unruhe

 

Folgende Hypothesen haben die Mitarbeitenden, die Frau Kellermann pflegen, zu ihrem Verhalten aufgestellt:

  • Sie hat Stress, weil ihr die anderen Bewohner fremd sind. Sie kommt dadurch in einen Modus, in dem sie ständig ihren Status behaupten und verteidigen muss.
  • Sie ist von dem Verhalten der anderen Bewohner:innen gestresst. Dadurch, dass sich andere Bewohner:innen nicht, an die ihr wichtigen Regeln halten, erfährt sie maximale Irritation. In ihrem Innern ist schon alles unsicher, wenn dann das Außen noch unbeherrschbar erscheint, ist sie total überfordert.
  • Ein geregeltes Außen würde Ihr Sicherheit geben.
  • Sie ist aggressiv, weil sie sich hilflos fühlt.
  • Sie versucht ihr inneres Chaos zu beherrschen, indem sie das Außen beherrscht.
  • Sie ist sehr streng erzogen worden und hat immer dann, wenn sie sich nicht richtig verhalten hat, Schläge bekommen. Dieses Muster hat sie jetzt auch.
  • Sie fühlt sich als Chefin und hat das Gefühl, ihre Arbeiter zur Arbeit treiben zu müssen.

 

Die Mitarbeitenden haben das Gefühl, Frau Kellermann befindet sich in einem Teufelskreis:

⬇️ Sie nimmt ihre Veränderung wahr und hat das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht stimmt und spürt, dass sie ihre Kontrolle, ihren Halt verliert.

⬇️ Sie fragt dann andere: „Wo bin ich hier?“ (siehe auch die anderen Fragen oben)

⬇️ Die Antworten, die sie auf ihre Fragen bekommt, sind unbefriedigend für sie. Das verunsichert sie weiter und ihr Stress und der Druck nach einer Antwort, die sie befriedigt, steigt.

⬇️ Sie gerät aus der Fassung und reagiert mit Wut und Schimpfen.

⬇️ Jetzt erfährt sie wiederum Ablehnung, die ihre Verzweiflung und Einsamkeit steigert.

⬇️ Sie läuft wieder herum und fragt: „Wo sind die anderen?“

⬇️ Der Teufelskreis beginnt von vorn.

 

Die Mitarbeitenden haben während der Fallbesprechung Ideen gesammelt für mögliche Maßnahmen:

Wenn Frau Kellermann vermehrt Fragen stellt:

  • freundlich auf die Fragen antworten – und ihr eine zusätzliche Information geben, die mit ihr selbst zu tun hat
  • andere nährende Kontakte anbieten:
    • Komplimente machen,
    • auf ihre Eltern ansprechen,
    • ihr sagen, dass man sie kennt, „Sie sind Frau Kellermann, sie sind die Tochter von …“

Wohlfühlen ermöglichen/Angst und Unsicherheit reduzieren:

  • kleine Events anbieten, die sie weniger verunsichern, wie spazieren gehen mit einer kleinen Gruppe
  • Ihre Situation validieren: „Das ist verständlich, dass sie sich hier nicht wohlfühlen. Sie kennen hier auch niemanden. Das sind auch viele fremde Menschen um Sie herum. Ich kenne Sie aber Frau Kellermann. Sie sind aus …, die Tochter von …, Ihre Eltern hatten ein Geschäft, …“
  • klare Regeln einführen:
    • immer der gleiche Essplatz, immer die gleichen Bewohner:innen die neben ihr sitzen
    • Distanz zu anderen Bewohner:innen, wenn sie gestresst ist
  • 1:1 Betreuung so oft es möglich ist
  • Viele biografische Gegenstände wie Fotoalbum, Postkarten von Gärten und Pflanzen, Postkarten von dem Ort in dem Sie geboren wurde

Wenn Frau Kellermann schlägt:

  • Deutlich nonverbal reagieren „Stopp, Frau Kellermann!“
  • Ihren Affekt validieren
  • Genau dokumentieren, um ein Muster erkennen zu können
  • Situationen, in denen sie entspannt ist, dokumentieren

 

Wie wertvoll die Logik „erst Verstehen, dann Handeln“ ist, zeigt die Fallbesprechung von Frau Kellermann.

Die Verstehenshypothese mit der deutlichsten Resonanz im Team war die, dass Frau Kellermann ihre innere Not nach außen wendet und ihre Desorientierung und Angst durch Fragen, Konflikte und Widerstand kompensiert. Durch das Verstehen ihres Verhaltens geht es auf der Ebene des Handelns um Maßnahmen, die ihr Sicherheit und Orientierung bieten.
Was für ein tolles Team, das sich auf diese Arbeit, hinter das Verhalten schauen zu wollen, einlässt!